Chronisches

Kleine Chronik des TiV – eine persönliche Liebeserklärung
von Kerstin Krämer
Vom Wohnzimmer, pardon: Studiotheater ...
Als ich das TiV Ende der 1980-er Jahre mit einer Freundin zum ersten Mal besuchte, haben wir uns entschuldigt und auf dem Absatz kehrt gemacht: Wir glaubten, versehentlich in einem privaten Wohnzimmer gelandet zu sein. Ja, so winzig war die Spielstätte, die sellemols unter ihrem ersten Namen Studiotheater noch in der Nauwieserstraße beheimatet war, wirklich – ein echtes, behelfsbestuhltes Zimmertheaterchen. Ganz groß hingegen waren immer schon das überwiegend ehrenamtliche Engagement und das aus diversen Nöten resultierende Improvisationstalent, mit dem im TiV kreativ (nicht nur) Theater gemacht und Mängel verwaltet wurden: Meist fehlte es an Geld, für manche kühne Idee war schlicht der Raum zu klein; mal rumorte es im Vorstand, mal schmiss ein*e künstlerischer*e Leiter*in frustriert hin, irgendwann kam Corona. Das TiV hat alle Stürme überlebt. Dass mir dieses heimelige Theater im Lauf der Jahre tatsächlich zum zweiten Wohnzimmer wurde, verdankt sich all den großartigen Menschen, die sich hier in welcher Funktion auch immer eingebracht haben und mir ans Herz gewachsen sind. Und egal, ob ich privat oder beruflich vorbei schaue: Im TiV fühle ich mich zuhause – daran hat sich bis heute nichts geändert.
... zum Dreh- und Angelpunkt der hiesigen Off-Szene in der Ära Dieter Desgranges
Um auf die Anekdote vom Anfang zurückzukommen: Der damalige künstlerische Leiter Jürgen Wönne eilte uns nach und bat uns wieder herein; ich weiß nicht mehr, welches Stück wir gesehen haben, aber aus diffuser Erinnerung kann ich sagen: Es war nicht seine schlechteste Inszenierung. Wönne war es auch, der das Studiotheater 1986 mit „seinem“ Schauspieler Thom Wolff als Kleinkunstbühne mit einem Schwerpunkt auf literarischem Theater gegründet hatte. Die beiden hielten immerhin eine Dekade lang durch; unter Wönne gab es unter anderem magische und literarische Zirkel, Kleinkunstfestivals, klassische Café-Konzerte und einen ambitionierten „Deutschen Literatur Theater Preis“ – eine gewisse Großspurigkeit machte immer schon Wönnes besonderen Charme aus. Auf ihn folgten Michaela Auinger und Thomas Mörschel, der einen weiteren Fokus auf experimentelle und zeitgenössische Musik legte, die lange Jahre von der heute noch aktiven Saarbrücker „ini-Art“ (Initiative für Musikkunst) bedient wurde.
Und dann begann 1998 die zwei Jahrzehnte währende Ära des 2021 verstorbenen Dieter Desgranges. Unter seiner gewichtigen Leitung gewannen Sprechtheater und Musik weiter an Bedeutung, und das TiV entwickelte sich zunehmend zum Dreh- und Angelpunkt der hiesigen Off-Szene – das Netzwerk Freie Szene Saar hatte hier seine erste Adresse. Dem trug 2011 auch der Umzug in das größere Domizil am Landwehrplatz Rechnung: Seither sind auch Tanzperformances möglich; parallel intensivierte sich mit dem ersten Hoffest 2014 die Verbindung zu den Nachbarn Alte Feuerwache und städtische Musikschule. Damit, dass die Landeshauptstadt den neuen Standort außerdem kostenlos zur Verfügung stellte, entfiel endlich auch die alljährliche finanzielle Zitterpartie, die dem Betrieb der Spielstätte bis dahin ein Höchstmaß an Selbstausbeutung abverlangt hatte.
Das Theater im Viertel bezieht Stellung gegen Gleichgültigkeit
Um die Verbundenheit mit dem Nauwieser Viertel zu signalisieren, hatte das Studiotheater zu diesem Zeitpunkt seinen Namen längst in Theater im Viertel geändert. Und das bezog immer schon Stellung, blieb nie gleichgültig: Fortwährend widmet es sich gesellschaftskritischen Themen und sucht die Kooperation mit anderen Institutionen – eine löbliche Tradition, die sich auch unter der künstlerischen Verantwortung von Dietmar Blume, Eveline Sebaa und Katharina Molitor sukzessive fortsetzte. Immer wieder positioniert sich das TiV gegen rechts, trommelt für Vielfalt, Toleranz und Demokratie und macht sich für Minderheiten stark. Sein Engagement als Hüter der jiddischen Kultur, die das TiV unter dem Einfluss der Sängerin Ruth Boguslawski beispielsweise mit den langjährigen Reihen „Klezmer Spezial“ und „Federmenschen – Jüdisches in Vers und Prosa“ lebendig hielt, wurde etwa 2013 seitens der „Gesellschaft für Christlich-Jüdische Zusammenarbeit Saarbrücken“ (CAJS) mit der Friedrich-Schlomo-Rülf-Medaille gewürdigt. Desgranges’ Passion galt zudem Kindern, Jugendlichen und Amateuren, die er wiederholt selbst erfolgreich in Szene setzte. Und wenn das TiV jetzt diese Geschichte fortschreibt und eine junge Theaterpädagogin wie Hannah-Sofie Schäfer als neue künstlerische Leiterin die Geschicke des Hauses mitbestimmt, dann ist das wohl auch ein Ergebnis dieser gezielten Nachwuchsförderung.
Mit Dieter konnte man auch gut „e Schwäddzje halle“. Allein der Abschied aus seinem Büro dauerte jedes Mal Stunden, weil er mit einem fabulierfreudigen „Wart emol, kennsche denne?“ einen Witz nach dem andern nachreichte. Und er wusste ganz genau, wo der Hund begraben liegt – genauer gesagt mehrere, meines Wissens mindestens drei, darunter mein eigener: im Garten seines Hauses in Karlsbrunn. Wo wir schon bei architektonischen Besonderheiten sind: Über dem alten, 1995 infolge eines Umbaus immerhin leicht vergrößerten Standort in der Nauwieserstraße gab’s auch noch eine Künstlerwohnung, in deren Küche früher bis weit nach Mitternacht Spielpläne und andere Herausforderungen diskutiert wurden. Weswegen denn auch nicht die üblichen TOPs (Tagesordnungspunkte), sondern NOPs (Nachtordnungspunkte) auf der Sitzungsagenda standen – behauptete jedenfalls Dieter.
Die Wahrheit kennt wohl nur Veronika Häfele-Zumbusch: Sie war 1990 Geburtshelferin des neuen und bald als gemeinnützig anerkannten Trägervereins „Studiotheater e.V.“ zur Förderung von Theater, Literatur und Musik; sechs Jahre später sollte sie den Vorsitz übernehmen und auf diesem Nerven aufreibenden Posten fast ein Vierteljahrhundert lang tapfer ausharren – eine wahrlich heroische Lebensleistung. Veros Archiv füllt vermutlich mehrere Zimmer und verzeichnet garantiert penibel sämtliche Turbulenzen, Produktionen und die Namen all derer, die es eigentlich verdienten, hier ebenfalls genannt zu werden. Etwa der stets geräuscharm im Hintergrund brummelnde Christoph Spanier, der dem Sektor Presse- und Öffentlichkeitsarbeit auf die digitalen Quantensprünge half.
Mit frischem Wind Richtung 40. Geburtstag!
Heute, unter der findigen kaufmännischen Leitung von Jutta Roth (Tochter des dem TiV eng verbundenen Magiers Julius Roth alias „Nemo“), die 2018 Veros Erbe antrat, tummelt sich das TiV ganz selbstverständlich in den sozialen Medien. Und was der aktuelle, verjüngte Vorstand bisher initiiert hat, zeugt von frischem Wind und erweist zugleich der Geschichte des Hauses Referenz. Seit 2022 wird ein hauseigener Spielplan kuratiert, der sich mit bewährten und innovativen neuen Formaten jährlich wechselnden Spielzeit-Themen von gesellschaftlicher Relevanz widmet. Daneben bietet das TiV weiterhin diversen Gastspielen ein Forum, wo insbesondere Spartenübergreifendes präsentiert wird.
Zu dem Kinderclub, der sich anfangs in Kooperation mit dem Überzwerg – Theater am Kästnerplatz etabliert hat, kam noch ein Jugendclub hinzu; der Erwachsenenclub „akTiV“ wurde von einer Impro-Gruppe für alle ab 18 abgelöst. Fein, dass auch das Angebot an speziellen Schulveranstaltungen weiter ausgebaut und ein Sommerferienprogramm aufgelegt wurde. Und was mich besonders freut: Der liebe Florian Layes, der als verlässlicher und allen Katastrophen gewachsener Veranstaltungstechniker dem Haus nun schon sehr lange die Treue hält, hat in den letzten Jahren endlich kollegiale Verstärkung bekommen.
Liebes TiV, ich freue mich jetzt schon auf nächstes Jahr: Dann feierst Du Deinen 40. Geburtstag. Ich bin dabei!
Kerstin Krämer